Selbstständigkeit, vor nicht allzu langer Zeit hätte ich niemals gedacht, dass das für mich ein Thema ist. Vor 10 Jahren habe ich nur bei dem Wort nicht viel mehr im Kopf gehabt als Männer zwischen 40 und 60, deren Leben aus Arbeit besteht und die ihre Kinder nie zu Gesicht bekommen. Ist das ein Bild, was uns in Medien eingetrichtert wird? Auf jeden Fall weiß ich spätestens jetzt, nach einem Jahr Textatelier73, wie viele Gesichter die Selbstständigkeit hat und dass sie genau das ist, was mir immer gefehlt hat.


Die Gesichter der Selbstständigkeit

Die Zeit als selbstständige Lektorin hat mir in vielerlei Hinsicht die Augen geöffnet. Darüber, was Selbstständigkeit ist, darüber wie man wirtschaftlich denkt, welchen Wert die eigene Arbeitskraft hat. Und ja, die Selbstständigkeit ist viel mehr als dieser eine Stereotyp: Sie ist klein und groß, sie beginnt beim Buchhändler, dem Obstverkäufer und dem Kfz-Werkstattbetreiber in der Innenstadt. Aber eben auch bei den Leuten, die im Home Office arbeiten, deren Selbstständigkeit gar nicht so nach außen tritt. Es gibt also sogar ziemlich viele Selbstständige, aktuell rund 4,1 Millionen in Deutschland. Sich das bewusst zu machen, macht mich bescheiden. Denn ich weiß ja nun, mit wie vielen Kleinigkeiten, Hürden und Gedanken man sich rein aus diesem Umstand heraus beschäftigt. Und wie viele während einer Krise wie in 2020 Existenzängste haben.

Das möchte ich hier betonen: Selbstständigkeit ist auch weiblich. Ich habe es gleich zu Anfang auf dem hessischen Unternehmerinnentag 2019 gesehen, aber auch privat: In meinem ersten Jahr Textatelier haben sich gleich drei Frauen, die ich kenne, so wie ich selbstständig gemacht. Wir haben so viele Qualitäten, die uns dazu befähigen. Uns liegt unsere Unternehmung wirklich am Herzen. Genau so geht es mir: Mein Textatelier ist mir zu meinem besten Freund geworden, ich möchte absolut nichts daran missen.


Zwischen Spannung und Zweifel

Auf eigenen Füßen zu stehen, ist eigentlich eine ständige Achterbahn der Gefühle. Gerade am Anfang wechseln sich Sorge und Freude ab. Sorge über Finanzielles: „Wo bekomme ich Unterstützung und ziehe ich das trotzdem durch, wenn es nicht klappt?“ Freude und Spannung über alles, was mit der Vorbereitung einhergeht. Geschichten und Tipps recherchieren von anderen, die dasselbe mitgemacht haben, an Seminaren teilnehmen, Logo gestalten usw. Das ist wirklich eine geniale Zeit, fast wie ein zweites Mal erwachsen werden, nachdem man beruflich immer den Entscheidungen von anderen folgen musste. Und der Stolz auf „das eigene Baby“, wenn es dann so weit ist, dass man loslegen kann.

Ich war mir immer ziemlich sicher, dass ich das um jeden Preis durchziehen will. Aber wenn ich darüber nachdenke, habe ich in diesem Jahr auch oft gezweifelt. An was? Die Antwort ist ziemlich deutlich: an mir selbst. Ich bin mein eigener größter Kritiker. Ich tu mir sogar schwer damit, das jetzt auf dem Bildschirm zu lesen, aber es stimmt. Regelmäßig frage ich mich: Kann ich das wirklich? Sind andere nicht viel besser als ich? Hätte ich nicht lieber Germanistik studieren sollen? Fehlt mir der Doktortitel, damit mich andere ernst nehmen? Dabei ist die Realität: Ich werde nie alle Fehler finden. Und ich werde weiterhin bei jedem einzelnen Text dazulernen.

Vielleicht ist ja die wichtigste Eigenschaft eines guten Lektors, sich dessen bewusst zu sein. Ich schlage lieber einmal zu viel nach als zu wenig. Und Vergleiche helfen dem eigenen Mindset nicht, auch nicht bei der Arbeit. Es wird immer Kolleginnen und Kollegen geben, die „besser“ sind, aber es wird auch immer diejenigen geben, die es nicht sind.


Meine Projekte

Ich wusste von Anfang an, dass es mir mit meiner Arbeit nicht an Abwechslung fehlen wird. Aber dass ich so viele, so unterschiedliche Projekte lektoriere, ist schon erstaunlich. Das fängt an bei den verschiedenen Textformen: von der Hausarbeit, den Studienbüchern und der Bewerbung bis hin zur Website, dem Magazin und dem Kinderbuch. Jede Textart hat seine Eigenheiten, seinen Stil, seine Fristen. Dasselbe gilt für meine Kunden: Denn ja, es gibt die Traumkunden – und da bin ich wirklich sehr gesegnet – Text geschickt bekommen, korrigiert zurücksenden, Rechnung schicken, Geld nach wenigen Tagen da, Kunde happy, ich happy.

Aber auch das krasse Gegenteil habe ich kennen gelernt: Fünfmal hin- und herschreiben, bis überhaupt der Auftrag klar ist, dann noch in 10 Seiten Vertrag und Verschwiegenheitserklärung einarbeiten, erst dann kommt ein Vorgabenkatalog von etwa 20 Seiten und eine Excel-Tabelle mit gewünschten Schreibweisen. Beides ist nicht vollständig und muss on the go im Team diskutiert werden, das dann erst noch mit dem eigenen Kunden klärt, was die beste Lösung für ihn ist. Drei Korrekturschleifen später erhält man kein „Danke“ und kein „klasse, Projekt erfolgreich abgeschlossen.“ Man steht etwas verloren da und fragt sich eigentlich, ob man etwas falsch gemacht oder vergessen hat. Sicher hat auch diese Herangehensweise grundsätzlich seine Daseinsberechtigung. Es muss aber klar sein, dass jeder einzelne Schritt für mich Arbeitsaufwand bedeutet – und das ist im Voraus oft schwer einzuschätzen.


Tipps – was ich aus dem ersten Jahr mitnehme

Ich hatte das große Glück, dass ich während meiner Entscheidungsphase fast nur Leute getroffen habe, die mich darin bestärkt haben, diesen Schritt zu gehen. Die mich inspiriert haben. Die realistischer Weise gesagt haben: Hey, auf eigenen Füßen zu stehen, ist sicher nicht immer einfach, aber es war die beste Entscheidung meines Lebens. Diese Inspiration war mir eigentlich die größte Hilfe. Vor allem weil die meisten Tipps, die ich zum Thema Selbstständigkeit gehört oder gelesen habe, so individuell sind, dass sie für mich gar nicht galten. Es gibt aber ein paar Ansätze, die ich allen mitgeben kann, die sich selbstständig machen wollen:

1. Sie haben es uns jahrelang im Studium eingetrichtert: Kontakte, Kontakte, Kontakte.

Damals dachte ich immer „schön und gut, aber sorry, ich bin einfach nicht der Typ fürs Netzwerken.“ Ich darf euch beruhigen: Das Wort Netzwerken bauscht das ganze viel mehr auf, als es sein müsste. Das ist ungefähr so, wie wenn man zum Spaziergang „Wandern“ sagt. Und so war das Netzwerken dann doch echt ein Spaziergang für mich.

Was habe ich gemacht? Ich glaube, einfach nur die Augen offen gehalten. Jede Person, mit der man beruflich oder privat ganz automatisch in Kontakt kommt, könnte für den späteren Werdegang relevant sein. Dass ich relativ viele Jobs in relativ kurzer Zeit hatte, hat das ganze vereinfacht und war am Ende ein großes Plus. Damit es aber wirklich Wirkung auf die Zukunft hat, braucht ihr aber z. B. Xing oder LinkedIn. Dort verfolgen genau diese Kontakte jeden eurer beruflichen Schritte. Wenn es zu Überschneidungen kommt, heißt es „hey, wir suchen da jemanden“ und schon ist die Zusammenarbeit in trockenen Tüchern.

2. Aber auch wenn die Selbstständigkeit gestartet ist, heißt es Augen aufhalten.

Oder vielleicht eher die Ohren? Entdecke Möglichkeiten, dich beim anderen einzubringen. Erzählt dir gerade jemand, dass er sich in Zukunft beruflich verändern will? Hey, vielleicht braucht er ja dann jemanden, der über die Bewerbung drüberschaut. Das klingt bei mir jetzt relativ einfach, weil Texte im Leben von allen Leuten eine Rolle spielen. Es geht einfach darum, immer mal wieder out of the box zu denken und seine eigene Tätigkeit wieder und wieder in Gespräche einzubringen, ohne aufdringlich zu sein. Ich glaube, im Übrigen, dass das auch für jeden Arbeitnehmer sinnvoll ist.

3. Finde deinen Vertriebskanal und konzentriere dich darauf.

Du bist totaler Social-Media-Fan und postest sowieso ständig, was du gerade tust? Dann mach einfach das gleiche mit deiner selbstständigen Tätigkeit. So generierst du Kontakte mit deinem Hobby. Bei mir hat sich die Website angeboten. Die ist jetzt im Juni ein Jahr alt geworden und wird dennoch langsam erwachsen. Sie war bereits hilfreich, um neue Kunden zu gewinnen und ich bin mir sicher, dass das in Zukunft noch mehr wird. Ich denke, dass mein Online-Auftritt dazu beiträgt, zu zeigen, wie ernst es mir ist und dass ich etwas draufhabe. Das hängt natürlich auch von der Tätigkeit und der Zielgruppe ab: Auf welchem Kanal kann ich meine Qualitäten den richtigen Leuten präsentieren? Das könnte auch eher persönlicher Kontakt oder ein Flyer in den passenden Briefkästen sein.

4. Hab Vertrauen – in dich und deine Chancen.

Ich hatte auch Durststrecken und natürlich habe ich mich gefragt, ob mir Corona gerade im ersten Jahr beruflich Probleme machen wird. Aber am Ende hat sich immer wieder eine Möglichkeit ergeben, so oft, dass ich mich wirklich glücklich schätze. Natürlich muss man dem Glück aber auch hin und wieder auf die Sprünge helfen. Ohne Fleiß kein Preis. 😉 Hab dabei keine Angst, auf deinen Bauch zu hören. Nur weil alle anderen etwas anders machen, heißt es nicht, dass du es genauso machen musst. Genau deshalb hast du dich doch selbstständig gemacht?


Ausblick auf das, was kommt

Passend zum Thema Zweifel und dazulernen werde ich noch im Herbst einen Korrektorat-Workshop machen. Das halte ich für wichtig, um auf dem aktuellen Stand der Rechtschreibung zu bleiben. Außerdem hoffe ich, dass ich dadurch in meiner Arbeit effizienter werde und vielleicht die eine oder andere Kollegin oder den einen oder anderen Kollegen kennen lerne.

Was die Projekte angeht, weiß ich nie so richtig, was auf mich zukommt und das ist das Spannende daran. Ich weiß nur eins – dass es weiterhin ein spontanes, aufreibendes Abenteuer wird. Und dass ich es in der Hand habe, wie es weitergeht. Ich, ganz allein.